105-Heimsuchung, Kante und das Mad Fat Diary

Neuigkeiten

Brecht, Baal und der Suhrkampverlag. 
Blur veröffentlichen neues Album nach 12 Jahrten Pause

Gelesen

Jenny ErpenbeckHeimsuchung

Jenny Erpenbeck war schon immer gut darin, die Vergangenheit neu zu verpacken und so erfahrbar zu machen, wie es nur wenige können. Aber die Rede ist nicht von römischen Imperatoren und mittelalterlichen Rittern – in “Heimsuchung” geht sie der Geschichte eines Hauses auf die Spur, in dem sie als Kind bei ihrer Großmutter viele schöne Sommer verbracht hat. Dieses Haus mit der bunten Glastür und das Grundstück am Scharmützelsee hat aber wesentlich mehr zu bieten als nostalgische Kindheitsträume. Erpenbeck schafft es, in der ihrer Figuren ganz eigenen Sprache – erzählend, folkloristisch, vielstimmig, fragmentiert und manchmal leicht entrückt -, auf die man sich eine lange Weile zunächst einfach einlassen muss, die sehr verschiedenen Bewohner und ihre Geschichten in ihrer ganze Komplexität nachdrücklich und berührend zu zeichnen.
Dieses Buch enthält echte Menschen. Echt nicht nur, weil sie historisch belegt sind, sondern vor allem, weil man sie beim Lesen erfühlt und erfährt, nahezu wertungsfrei. Weil sie einen mitnehmen und abstoßen. “Heimsuchung” ist ein Roman, der wegen seines Realismus eigentlich nicht für Eskapismus taugen sollte und doch so weit weg entführt. Diese 200-seitige Suche nach Heimat ist nicht immer leicht – selten sogar -, doch die Reise lohnt sich.

Gehört

Kante – In der Zuckerfabrik (Homepage) (Spotify)

Sieben Jahre mussten Kante Fans auf eine neue Studioeinspielung der Band warten. Neue Songs sind aber auf diesem Album nicht zu hören, sondern Songs die Kante in den letzten Jahren für Theaterproduktionen geschrieben haben. Neu ist nur, dass sie im Studio eingespielt wurden. Nichts desto trotz erkennt man die Mischung aus Rock, Jazz, Pop, Indie und Alternative sofort wieder. Extrem elaboriert kommt die Musik auf diesem Album daher. Klangcollagen sind hier genau so zu hören, wie ruhige Klavierpassagen. Das ist keine Musik zum Nebenbeihören. Dass die Mitglieder der Band ihr Handwerk beherrschen wird auf diesem Album sehr deutlich. Das was auf diese Album passiert, kann man getrost als Kunst bezeichnen. Und trotzdem entstanden tolle Songs, welche, wie schon erwähnt, aus verschiedenen Theaterproduktionen stammen. Man hört diesem Album das Theater an. Hier wird eine Atmosphäre geschaffen, die sofort ans Theater denken lässt. Kante-typisch ist auch dieses Album von Schwermütigkeit getränkt. Kante-Fans werden feiern, aber auch andere sollten diesem Album eine Chance geben. Wer Blumfeld oder Tocotronic mag, sollte sich dieses Album unbedingt anhören. Wer elaborierte, leicht verschrobene und anspruchsvolle Musik mit hübschen Texten mag, kommt an diesem Album nicht vorbei.

Gesehen

My Mad Fat Diary (IMDb)

My Mad Fat Diary ist eine Serie, wie sie britischer nicht sein könnte. Es handelt sich um die Tagebücher der jugendlichen Rae Earl, die nach schweren psychischen Problemen pünktlich zu den Sommerferien aus der Klinik entlassen wurde. Sie findet, zu ihrem eigenen Erstaunen, schnell Anschluss, verliebt sich, lernt sich selbst wertzuschätzen – oder versucht es. Obwohl es ihr, trotz laufender Therapie, sehr, sehr schwer fällt. Rae ist stark übergewichtig, wobei ihre fürchterliche Mutter nicht gerade hilfreich ist, sie hat laufend Liebeskummer und fürchtet, dass sie niemals Sex haben wird. Dass sie mitten in der Pubertät steckt, macht diese Probleme noch einmal ungefähr zweihundertausend Mal schlimmer… aber wenigstens gibt es noch Oasis und ihre große Leidenschaft, die Musik. Was diese Memoiren einer pubertären, dicken, unheimlich coolen jungen Frau ausmacht, ist der trockene und schwarze Humor, die Nähe, die man zu Rae aufbauen darf, der ehrliche Umgang mit psychischen Krankheiten und der einzigartige Stil, in dem ihre Tagebuch-Kritzeleien die Szenen optisch bereichern und für weitere Lacher und Schmunzler sorgen. Ein Geheimtipp, den man auf keinen Fall verpassen sollte, wenn man britisches Fernsehen mag. Die dritte und letzte Staffel erscheint dieses Jahr!

Empfehlungen

NDR Bigband (Homepage) und Christof Lauer (Homepage) – Petit Fleur (Spotify)
Deichkind – Wieso, Weshalb, Niveau (Homepage) (Spotify)

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2 Replies to “105-Heimsuchung, Kante und das Mad Fat Diary”

  1. Explikator

    Regarding Brecht, Baal und Suhrkamp
    Ich verstehe Herrn Martinsens Standpunkt nur zu gut. Es sollte keine Einschränkungen geben für die kreative Freiheit bei Wiederaufführungen klassischer Werkstücke des Theaters.
    Ich kenne aber die Aufführung, um die es hier geht. Die basiert nur zu einem gewissen Teil auf Brecht’schen Texten.
    Es ist keine Aufführung eines Stückes von Brecht. Es ist eine Aufführung eines Stückes, das zum Teil auf Brecht’sche Texte zurückgreift.
    Das ist in Ordnung. Das könnte man nennen „Angelehnt an…“ oder „Frei nach…“ oder im „Sinne von…“.
    Dann wäre das absolut in Ordnung. Und interessanter.
    Aber es ist „Brecht: Baal“ Punkt
    Und deswegen haben in diesem Fall Suhrkamp und Brecht’s Tochter recht. Die mischen sich ja auch sonst nicht ein, oder?
    Sorry, I beg to differ.

  2. Herr Martinsen

    Hallo.

    Danke für deine Ausführungen. Na ja, einmischen tun sie sich natürlich schon andauernd. In diesem Falle hätte die Einmischung aber wohl vermieden werden können, wie es scheint. So wie es sich mir nunmehr darstellt, haben sie dann in diesem Falle tatsächlich recht. Wir werden das in der nächsten Sendung richtigstellen. Vielen lieben herzlichen Dank für die Aufklärung.

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